Nicht nur eine Theaterkritik:
Eine Erinnerung an Herrn Reich

Als ich Michael Uhden nach dem Start seiner TAG fragte, erinnerte er sich an Schminkproben, Texte und Vieles mehr. Dann wurde er nachdenklich: "Wissen Sie, daß ich nach einer der ersten Aufführungen der TAG die einzige längere und positive schriftliche Reaktion auf meine Theaterarbeit erhielt. Es war ein Schreiben vom Herrn Reich (Anmerkung: verstorbener Lehrer des LG)."
Meine dreiste Frage "Darf ich mal reinsehen ?" wurde mit einem 'ja' belohnt.
Und wer den Kollegen Reich länger als eine Woche kannte, wird nicht überrascht sein, daß ich die 14 Seiten (handgeschrieben, DIN A4, ohne jeden Tip-Ex-Einsatz und ohne eine Korrektur anderer Art !) in einem Rutsch durchlas. Es hätten auch 50 Seiten dieses Zuschnitts sein können. Eine Pause hätte ich nicht gemacht!.
Es passt zwar nicht so ganz zum Thema dieses Homepage-Abschnitts, aber ich kann es mir nicht verkneifen, einige Ausschnitte des Schreibens vom 15.VI.80 (mit Erlaubnis von Herrn Uhden) wiederzugeben:

"Sehr geehrter Herr Uhden !
Wenn ich Goethe wäre, so würde ich Ihnen für ein artiges Erlebnis danken.
Da ich es nicht bin, muss ich etwas analytischer und weitschweifiger werden:-
Ich meine natürlich die Theateraufführung, und zwar die Premiere von Freitag.
Ich erlebte sie aus der etwa halben Tiefe des Saales in Richtung Ende des vorderen Drittels; also von einem Punkt unweit der Demarkationslinie zu den (aus Unkenntnis) leeren Stühlen.
Was diese etwas mißglückte Ortung besagen soll: Ich hatte einen erstklassigen Blick auf Darbietung und Publikum, von einem Symmetriepunkt am Mittelgang aus.
Der Applaus war spontan, stark und voll verdient.
Zu drei Aspekten drängt es mich, einen Kommentar abzugeben, der natürlich subjektiv ist, aber deswegen nicht notwendigerweise falsch.

(a)    Das Stück als solches und die Qualität der Aufführung

(b)    Ensemblegeist und pädagogische Relevanz

(c)     Ihr persönlicher Einsatz zu Zeit, Kraft, Enthusiasmus.

Ich beginne mit dem Punkt, den ich am besten beurteilen kann, da ich selbst vor ca. 15 Jahren Vergleichbares wagte [Schattenspiele mit Rückprojektion und Tonband; die Dias müssen noch in dem Stahlschrank lagern!], also
ad (c):
..................................
Ich war damals Junggeselle und voll fit. Daß Sie das als Familienvater schaffen und mit einer Gehbehinderung (Aulatreppen!), verdient Respekt oder eine Medaille oder beides. Und das noch neben dem Oberstufenverwaltungsmist (Lügenentschuldigungen). Wenn Sie erlauben, verbeuge ich mich vor soviel Einsatz! Sie brauchen mir nicht zu erläutern, daß das Tun selbst einen gewissen Lohn abwirft.
Ein Helfer bei Ähnlichem (Begrüßungsspiel für Neuaufnahme-Sextaner) sagte einmal schön - um ca. 1963/ 64 - :"Unser Dank ist die Tätigkeit selbst." Diese Genugtuung entbindet jedoch keineswegs Außenstehende von Anerkennungspflichten, allen voran den Schulleiter, daneben die Kollegen, Elternschaft, Stadt - in beliebiger Reihenfolge.
Damit bin ich bei Punkt (b) angelangt:-
Es ist zwar hundertfach "in der Literatur" nachzulesen von Pestalozzi über Orff und Montessori bis zu den Heilpädagogen des Jahres 1980, wieso musisches Tun im breitesten Sinne erziehlich wirken kann und einen "ganzen Menschen" zur Entfaltung bringt, aber es wird seltener demonstriert als gedruckt. Der Ensemblegeist war ansteckend; die Spielfreude spürbar und zündend. Nichts war Zirkus-Drill oder Tarif-Routine. Daß Sie als Pädagoge neben der Regie auch noch im Ensemble waren, ist gleichsam eine Besonderheit mit Kom(m)ödchen-Tradition (ich saß hinten im Auditorium und rührte mich nicht vom Fleck), für die es keine Vorschriften geben kann. Ihnen steht die Rolle kraft Übung und Naturell; ich brächte es nicht fertig, die Choreographin zu umhalsen, wie väterlich-partnerschaftlich auch immer. Aber das sind nur Nuancen.
Ich könnte jetzt Seiten über den team-Geist schreiben, den Sie weckten. Ich erspare mir das, weil Sie das selbst besser wissen. Aber eins muß ich loben dürfen: Daß Sie (oder die Choreographin, veranlaßt durch Ihre Erst-Initiative) es fertigbrachten, ein Kind, das man sonst immer nur auf dem Fußboden in Balgereien verstrickt sieht oder als Zielscheibe von Spott oder als Träger von Trotz, in ein musisches Miteinander harmonisch zu integrieren (...), das verdient ein Maria-Montessorie-Halsband mit Eichenlaub ohne Schwerter. Zu Punkt (a) kann ich mich kurz fassen, da es hierzu nichts aus der Schulgeschichte zu referieren gibt und Sie ohnehin auf diesem Sektor der Kompetentere sind, gleichsam ein Profi, der ein Anrecht auf Profi-Kritik hat. Fragen Sie mich nach meinem Urteil als Laie, so würde ich so sagen:
Die ganze Aufführung erinnert an die Drachenburg im Siebengebirge: wo viele theoretisch inkongruente Stilelemente zusammenkommen, kann ihr Ergebnis ein Amalgan sein, das dank oder trotz seiner 100 Stilbrüche einen eigenen Stil bildet. Es war eine Spaß bereitende Drachenburg à la M.U. mit Brett'l-Touches à la Kom(m)ödchen und einem liebreizenden Zuckerwattebausch à la Peter Pan. Es war jedoch keineswegs nur deswegen gelungen, weil es Schüler taten. Einiges und Etliches hatte ein Anrecht darauf, mit Maßstäben oberhalb des Laienspiels gemessen zu werden. Herausragend (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die Musikalität des Schlußsongs, die Johann-Freiherr-von-Eichendorff-Leichtigkeit des Galonska minor natu, die choreographische Leistung der Gräfin, die trocken-keusche Komik des Autolenkers. Weitere highlights werden Ihnen sicher die Kollegen nennen. ...............

Letzter Punkt: Wie soll es weitergehen ? Diejenigen werden Sie am stärksten zum Weitermachen drängen, die am wenigsten von den auftretenden Problemen verstehen. Lassen Sie sich nicht ohne Forderungen auf billige Lobhudelei ein. Ein Aushängeschild ist natürlich immer schön für eine Schule, vor allem, wenn es andere malen. Das Hauptproblem ist das schnelle Herauswachsen aus der Truppe. Spätestens nach der 2. Rolle wird Abitur gemacht. Ein anderes der 'Kompensierungsfaktor'. Manchmal drängen schwache Schüler zum Ausgleich in Rollen, die ihren Zeugnis-Noten-Pegel dann weiter absenken - bis hin zum Sitzenbleiben. Der schwedische Filmtitel, Ulla Jacobsens Film-Ego betreffend, 'Sie tanzte nur einen Sommer', gewinnt hier gleichsam eine pädagogisch-programmatische Dimension.

Wer bin ich eigentlich, daß ich befugt wäre, Ihnen Ratschläge zu erteilen ? Ich tue es aber dennoch, und sei es auch nur, damit Sie sie begründet mißachten: Es war ein genialer Kunstgriff (ob gewollt oder zufällig), daß Sie gleich mehrere Generationen im Ensemble haben. Etwas literarisch Anspruchsvolleres ist Ihnen nach dem jetzt Erreichten zuzutrauen.
...............
Weil ich jetzt an dem Punkt angekommen bin, wo mein Wissensstand so begrenzt ist wie mein Papiervorrat, kneife ich ab.

Gratulator !

     Gratias tibi !

          Encore !

               Rh

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