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11.Dezember 1941
Deportation nach ins
Ghetto von Riga, Lettland
1010 Personen
Hilde
Sherman-Zander wurde 1923
in Mönchengladbach in eine Familie jüdisch-orthodoxer Abstammung geboren.
Ihre Familie zog vor über 400 Jahren von Spanien über Holland nach
Frankreich. 1941 wurde Hilde mit ihrem Mann Kurt Winter, den sie eigentlich
erst nach Kriegsbeginn, dann jedoch kurz vor der Deportation (dem
6.Dezember 1941) heiratete, nach Riga (Lettland) deportiert. Alles begann
kurz vor ihrer Hochzeit: Damals meldete sie sich freiwillig zur Deportation,
um mit ihrem Mann Kurt gemeinsam deportiert werden zu können- an diesem Tag
erfuhr sie auch, dass sie von ihrer Familie getrennt werden würde - denn
diese wurde zur Deportation abgelehnt. Die endgültige Trennung fand jedoch
erst ein paar Tage später statt: am 10. Dezember 1941. Es war nach
ihrer Heirat mit Kurt, nach dem Angriff auf Pearl Harbour und nach einem
tränenreichen Abschied. Hilde hatte mit ihrem Mann noch einmal die Familie
besucht, um sich von ihren Lieben zu verabschieden, doch sie hatte nicht
gewusst, dass es für immer sein würde- und sie hatte „an diesem Tag das
Weinen verlernt“!
An diesem Tag kam am Nachmittag der Zug am Düsseldorfer Schlachthof, zu dem
die zur Deportation vorgesehenen Menschen zu Fuß geführt wurden, an. Nachdem
die Menschenmenge am Schlachthof von Düsseldorf ankam, wurden ein paar
junge, starke Männer aufgefordert, die auf dem Weg verlorenen Sachen
aufsammeln zu gehen. Hildes Mann war ebenfalls unter den Auserwählten- als sie
ihm etwas zurufen wollte bekam sie einen Schlag von hinten, als sie sich
umdrehte stand ein Gestapobeamter vor ihr und brüllte sie an, sie solle nicht
so bummeln. Für Hilde war es das erste Mal, dass ein Fremder sie anrührte
und sie duzte.
Mittlerweile waren auch die Männer mit dem Gepäck wieder zurück und nun hieß
es: „Jeder gibt seine Rücksäcke und Taschen ab und wird untersucht“. Die
Frauen und Männer wurden nach dem Alphabet aufgerufen und getrennt untersucht.
Auch Hilde kam an die Reihe, eine Beamtin ging mit ihr in eine spärliche
Kabine, wo Hilde sich bis auf die Haut entkleiden musste. Es dauerte eine
Weile, denn Hilde hatte sich alles doppelt und dreifach angezogen, um nicht
zu frieren. Für Hilde war es das erste Mal, dass sie nackt vor einem Fremden
stand.
Als sie sich wieder ankleiden durfte nahm ihr die Beamtin ihren blauen
Angorapullover weg. Nach dem Verlassen der Kabine bekam Hilde ihren Rucksack
wieder, beim Hineinschauen bemerkte sie, dass ihre- von Ruth, einer Freundin,
selbstgemachte- Schreibmappe und Stifte fehlten. Für Hilde war es das
erste Mal, dass sie bestohlen wurde.
Die ganz Nacht verbrachten die Menschen eng zusammenstehend auf dem
Schlachthof. Die Babys und Kleinkinder wurden in den Steintrögen
untergebracht, wo sie die ganze Zeit über weinten und schrieen. Gegen vier
Uhr morgens wurden sie dann endlich herausgeführt. Alle mussten ihre
Taschenlampen abgeben. Doch plötzlich schlugen Beamte der Gestapo einem Mann
mit einem Gummiknüppel auf den Kopf. Als er drei Stunden später immer noch
auf dem Boden lag, war klar: Dies war der erste Tote des Transportes.
Hilde konnte es nicht glauben, dass all dies geschah, in Düsseldorf- in
Deutschland! Was sollte denn erst in einem fremden Land noch alles mit den
Juden geschehen???
Als die Morgendämmerung einsetzte, fuhr ein Zug vor- es wurden erst die
Koffer, die keiner je mehr wieder sah, eingeladen und dann mussten sich die
Menschen zu je acht in einem Abteil einfinden(Hilde kam mit ihren
Schwiegereltern, ihrer Schwägerin Grete und ihrem Mann Alfred Cohnen, Alfred
und Herbert Winter und einem weiteren Mann in ein Abteil). Ins Nebencoupé
quetschten sich das Ehepaar Herzog und sechs weitere Personen- alle waren aus
Krefeld. Es war der 11.Dezember und gegen neun Uhr setzte sich der
überladene Zug endlich in Bewegung. Am späten Nachmittag kam der Zug in Berlin
an, wo die vor Kälte frierenden, oder vor Hitze schwitzenden Menschen nicht
einmal aussteigen durften, um sich etwas zu trinken zu beschaffen. Erst am
nächsten Morgen ging die „Reise“ weiter. Kurz hinter Schneidemühl
blieb der Zug auf offener Strecke einfach stehen- hier wurden auch die Türen
aufgerissen und die Insassen aufgefordert sich an dem Schnee zu bedienen.
Warum? Damit sie etwas zu trinken hatten! Hilde, die aus Angst vor Schmerzen
als einzige ihre Stiefel anbehalten hatte genoss für einen kurzen Augenblick
das Sonnenlicht und sammelte eifrig den Schnee, der ihnen später auch als
Waschwasser diente. Als alle Schneesammler wieder in ihren Abteilen saßen
ging es auch schon weiter... und knapp zwei Stunden später waren sie am
nächsten Halteort angekommen. Nach Insterburg fuhr der
Personentransporter erst durch, als es schon nach Mitternacht war! Dort
angekommen, durften die Reisenden aussteigen. Hilde gelang es eine
Postarte an ihre Eltern unbemerkt in den Briefkasten am Ende des Bahnsteigs
zu werfen. Mit Einbruch der Dämmerung hielt der Zug mitten in der Einöde
und morgens standen auf einmal an beiden Seiten der Abteile SS-Truppen. Alle
sollten so schnell wie möglich den Zug verlassen. Nach der Säuberung der
Abteile, die von den Deportierten mit bloßen Händen vollzogen wurde,
postierte sich der Obersturmführer K. vor die Menschenmenge und erklärte
laut: „Ich bin euer Ghettokommandant, vom Ghetto in Riga, Lettland.
Abteilung- marsch!“. Erst durch diese Worte erfuhren die erschöpften
Menschen, wo sie überhaupt angelangt waren.
Ein Mann, der seine beiden Kinder auf dem Arm trug fragte K. sehr höflich, ob
es denn noch weit sei und ohne Vorwarnung hob K. seinen Krückstock mit dem
silbernen Knauf und schlug damit auf den Herrn ein. Hilde konnte ihren Augen
kaum glauben, als sie sah, wie die Kinder zu Boden fielen und der Hund von K.
den, schon wehrlos am Boden liegenden, Mann anfiel. Keiner kümmerte sich
weiter um den Mann und K. fuhr mit seinem Gefolge davon! Der Anblick von
Herr Meyer war unglaublich- da, wo sein Mund war konnte man nur noch blutige
Masse und die eingeschlagenen Vorderzähne erkennen. Der Transport wurde
fortgesetzt, als sei dies nie passiert- 1010 Menschen, ohne Erwartungen, ohne
viel Lebensmut bildeten eine schier endlose Schlange, die sich durch die
Schneelandschaft schlängelte. Endlich tauchte vor ihnen die „Altstadt von
Riga“ auf- es war die sogenannte Moskauer Vorstadt. Sie waren am Ziel: im
Ghetto von Riga... Dort mussten sie jegliche Wertgegenstände abgeben. Es
entstand ein gewaltiges Durcheinander, in dem es Hilde gelang ihre Uhr soweit
hoch zu schieben, dass sie keiner bemerkte. Die „Regeln für die Juden“
wurden nach Abgabe des Schmucks und der Pelze verlesen.
„Juden dürfen keine Wertgegenstände besitzen. Juden dürfen das Ghetto nicht
verlassen. Juden dürfen keinen Kontakt zu den Zivilbewohnern aufnehmen. Juden
dürfen keinen Tauschhandel betreiben. Juden dürfen keine Kinder gebären.
Juden dürfen keine Post empfangen oder versenden...“ Und... und... und...
Alle, die gegen diese Regeln verstoßen hätten, wären ermordet worden. Ein
Lichtblick war es, als nach stundenlangem Warten endlich Leute mit heißen
Getränken zu den gerade deportierten kamen und es für jeden einen Becher mit
heißem Kaffee gab. Die rettenden Leute waren Deportierte aus Köln und
Kassel, die am 10. und 12.Dezember deportiert worden waren. Ohne jegliche
Vorwarnung wurde den Menschen befohlen, sich in die Häuser zu begeben. Da
sämtliche Fragen an die bereits schon Deportierten fehlschlugen, wusste
keiner was los war. Ein weiterer Befehl folgte. „Es ist den Juden untersagt,
sich zwischen Sonnenauf- und -untergang auf der Straße aufzuhalten! Bei
Todesstrafe!“ Es war die erste Nacht in Gefangenschaft, die Nacht vom 14.Dezember
1941.
Der Wunsch des Zusammenbleibens wurde dadurch erfüllt, dass sich alle
Menschen in ein zweistöckiges, dunkles und unheimliches Haus drängen mussten.
Erst am nächsten Morgen nahmen die Gefangen wahr, wo sie sich befanden: es
war ein Haus, das aussah, als hätten die Bewohner es aus Furcht panisch beim
Essen verlassen, denn es standen Schüsseln mit gefrorenem Essen herum! Mit
mindestens siebzehn Menschen schliefen sie in einem Zimmer. Auf der Straße
dann kam der nächste Schock, eine alte taube Frau lag tot auf der anderen
Straßenseite. Sie hatte durch einen Kopfschuss die „Befreiung“ aus der
Gefangenschaft gefunden. Die erste Tote in der Gefangenschaft...
Nachmittags fanden Hilde und ihre Mitleidenden einen Weg durch die Hinterhöfe
und Schuppen, um Kontakt zu den Bewohnern aus Köln und Kassel aufzunehmen.
Viel erfuhren sie leider nicht, denn ihnen war das gleiche Leid zugetragen
worden und auch bei ihnen hatte keiner eine Ahnung, was vorgefallen war. Am
nächsten Morgen wurde das Gebiet zwischen der Kölner, Kassler und
Düsseldorfer Straße freigegeben. Die Kölner Gruppe musste einen „Ältestenrat“
stellen- Herr Leiser, ein alter Mann, wurde „Oberjude“. Erder,
russischer Abstammung, wurde zum „Ghettopolizisten“ gewählt...
Doch dies ist nicht der ganze Leidensweg von Hilde Sherman-Zander. Sie blieb
bis zum Oktober 1941 in Riga, wo sie ihre Freunde und Familie sterben
sah. Später wurde sie nach Hamburg- Fuhlsbüttel verlegt und entkam
dann Ende April 1945 endlich ihrer jahrelangen Gefangenschaft!
Leider kann sie diese Qualen und Schändereien nie vergessen, doch nach dem
Krieg heiratete sie einen neuen Mann und hatte so die SS-Männer wenigstens
ein Stück weit „besiegt“...
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